Tibetische
Orakel:
Lhamo Tsewang Dolma und
Lama Lobsang Sampten
Von Christina Hell
Das ladakhische Orakel
Lhamo Tsewang Dolma ist eines der beiden bedeutendsten Orakel
Ladakhs. Orakel ist die in der Literatur übliche
Bezeichnung für Schamanen des tibetischen Kulturkreises.
Tsewangs Körper ist fähig, Geistwesen aus den höheren
Welten mit einer sehr subtilen Energie zu empfangen, eine Energie,
welche die feinen Nervenkanäle eines normalen
Menschen in wenigen Augenblicken versengen würde. Sie ist
44 Jahre alt, hat vier Kinder und lebt mit ihrer Familie in der
Nähe der Hauptstadt Leh in ihrer Heimat Ladakh. Aufgrund
der hohen Herkunft ihrer Geister ist Tsewang Dolma in Ladakh kein
normales Orakel. Sie ist ausschließlich für
die Beratung in Staatsangelegenheiten und die Behandlung von schwer
heilbaren Krankheiten zuständig.
Lama Lobsang Sampten wurde 1968 in Saspol, Ladakh geboren. Mit
acht Jahren brachte ihn seine Familie in das abgelegene Felsenkloster
Likir. Ein Meister der Gelugpa, des Ordens der Gelbmützen,
deren Oberhaupt der Dalai Lama ist, nahm ihn auf und unterrichtete
ihn. Fünf Jahre später, nach dem Tode des Meisters,
sandte man Lobsang an die Klosteruniversität Drepung Gomang
in der tibetischen Exilkolonie Mundgod, Südindien. Diese
Ausbildung umfaßte ein 16-jähriges Grundstudium der
buddhistischen Philosophie und Geisteswissenschaften, dem die
sechs Jahre dauernden Unterweisungen und Prüfungen in der
Schule der Gelug folgten. 1998 erkannte der Dalai Lama in Lobsangs
14-jährigem Bruder die Reinkarnation (Tulku) seines ehemaligen
Lehrers wieder und gab ihm den Namen Gyabum Tulku Lobsang Choden.
Seither lebt der Tulku unter hohen Würden ebenfalls in der
Exilkolonie Mundgod.
Das tibetische Orakelwesen
In der tibetischen
Kultur hat das Orakelwesen eine uralte Tradition, eine Tradition,
die schon Jahrtausende vor der Einführung des Buddhismus
bestand. Die archaische Religion Tibets, der Bön, ist ein
schamanistisch geprägter Animismus mit stark magischen Zügen.
Heute ist das Orakelwesen mit dem Buddhismus verschmolzen und
die Gottheiten des Mahayana-Pantheons haben die animistische Welt
des Bön erheblich erweitert. Denn die Kosmographie des Mahayana-Buddhismus
liefert die mit Abstand detaillierteste Landkarte des metaphysischen
Universums, die uns zur Zeit auf der Welt zur Verfügung steht.
Tieftrance und Krankenheilung
In der Tieftrance lösen die Orakel ihr Individualbewußtsein
auf, um dem höheren Bewußtsein der angerufenen Wesenheit
Raum zu schaffen. Um die der Zeremonie beiwohnenden Teilnehmer
vor dem Atem des Geistes zu schützen, binden
sich die Lha/mo´s ein Tuch vors Gesicht. Im Zustand der
Tieftrance besitzen die meisten Lha/mo´s den sogenannten
Röntgenblick. Dieser Blick durchdringt Felswände und
Mauern ebenso mühelos wie den menschlichen Körper. Krankheiten
und Störungen können umgehend erkannt werden.
Die tibetische Philosophie
von Krankheit und Gesundheit
Der Heilungserfolg
ist jedoch nicht nur abhängig von der Macht der Lha/mo´s
und ihrer Geister. Wirkliche Heilung kann nur erfolgen, wenn der
Kranke selbstverantwortlich mitarbeitet, seine destruktiven Denkmuster
und Verhaltensweisen ändert, die von den Geistern der Lha/mo´s
während der Behandlung schonungslos aufgedeckt werden. Die
aus der Verdunkelung des Geistes erwachsene Illusion eines Ego
führt in der Folge zu den beiden Eigenschaften Gier und Haß.
Unwissenheit, Gier und Haß werden daher als die drei
Geistesgifte bezeichnet, welche wiederum die Basis für
die stolze Summe von 84000 weiteren falschen Überzeugungen
bilden und ebensoviele Krankheitsformen nach sich ziehen.
Im tibetischen Orakelwesen ist das schamanistische Gedankengut
des Bön auf einzigartige Weise mit der komplexen Philosophie
des Buddhismus verschmolzen. Die Effektivität ihrer Verschmelzung
beweist, daß sich die beiden verschiedenen Weltbilder gegenseitig
nicht ausschließen, sondern sich vielmehr ergänzen
und bereichern.
Auf
den Spuren des Urschamanen:
Maile Lama, Indra Gurung und Mohan Rai aus Nepal
Von Andreas Reimers
Im Schneidersitz leicht
nach vorne gebeugt, die Aufmerksamkeit nach innen gelenkt, Schweißperlen
im dunkel gegerbten Gesicht, schlägt Maile Lamadie Trommel,
deren Rhythmus sich intensiviert, während sie ihre alten
Hymnen singt - bedeutungsträchtige Melodien aus einer fernen,
schon verloren geglaubten Zeit. Sie ruft die Kräfte dieser
Erde, die das Geschick der Menschen bestimmen, bittet um ihre
Hilfe, bittet um ihren Segen.
In Trance folge ich meinen inneren Bildern, sehe ich durch sie
hindurch die Tradition der Meister, höre Bonjankri zu mir
sprechen, während mein Körper vibriert und durch den
Raum geworfen wird. Maile war auf einer Seelenreise zu meinem
Wohnhaus in Deutschland gereist und sie berichtet von unserer
großen Linde und dem Teich, die sie dort gesehen hat. Sie
gibt mir auf, regelmäßig vor dem Baum zu beten und
die Nagas (Schlangengeister) im Teich zu verehren. Ich bin glücklich.
Und ich spüre, dass ich jetzt springen mußte. Ich überließ
mich dem Ritual, den Rhythmen der Trommel und den Mantren Indras,
und plötzlich spürte ich eine innere Kraft, die mich
trieb und zum offenen Kamin laufen ließ- ich war außer
mir und hatte alle Kontrolle aufgegeben. Ich verspürte einen
unbezähmbaren Drang, mich mit dem Feuer vor mir zu verbinden
und griff ins Feuer und begann die Glut zu essen.
Ich war in den letzten Monaten unter merkwürdigen Umständen
wiederholt mit dem Tod konfrontiert worden und mein Sohn war an
Leukämie erkrankt. Doch die Heilkraft der schamanischen Heilrituale
wurde mir erneut vor Augen gestellt, als bei meinem Sohn nach
einer Zytostatika-Behandlung die Zahl der Blutkörperchen
massiv abgefallen war. Nach einem intensiven gemeinsamen Heilritual
hatten sich die Laborwerte am nächsten Tag so gut erholt,
daß ein bereits fertiggestelltes Thrombozytenkonzentrat
nicht gegeben zu werden brauchte. Da sich keine medizinische Erklärung
fand, wurden die Messergebnisse des Vortages angezweifelt. War
es Zufall? Wer schamanisch arbeitet, muß damit rechnen,
daß ihm so manches zu-fällt.
Es wurde mir bei der Beschäftigung mit dem nepalesischen
Schamanismus klar, daß dieser zwar eine kulturgebundene
Form besitzt, aber auf universalen Gesetzmäßigkeiten
der menschlichen Psyche beruht und daher für mein Selbstverständnis
als Arzt und mein therapeutisches Handeln eine praktische Relevanz
besaß. Durch meine Auseinandersetzung mit den Schamanen
und die neuen Erfahrungen erweiterten sich mein Menschenbild und
meine Vorstellung von dem, was Krankheit und Heilung bedeutet.
Die westliche Medizin hat sich schon immer - z.T. gepaart mit
kolonialer Überheblichkeit und Abwertung - aus dem schamanischen
Wissen bedient. So entstammen eine Reihe der wichtigsten heute
in der westlichen Medizin verwendeten Arzneimittel, dem Kräuterwissen
der Schamanen. Einzelne Konzerne gingen auch soweit, sich alte
Pflanzenrezepturen patentieren zu lassen und damit dem Zugriff
der traditionellen Heiler rechtlich zu entziehen. Auch die Hypnose
und die davon abgeleiteten modernen Entspannungstechniken und
verschiedene humanistische und transpersonale Psychotherapiemethoden,
haben ihre Wurzeln in der schamanischen Heilpraxis. Eine nähere
Betrachtung nepalesischer Heilrituale zeigt, daß in ihnen
eine Reihe unterschiedlicher auch in der westlichen Psychotherapie
verwendete Methoden sinnvoll miteinander verwoben sind.
Erst die Entwicklung der modernen psychosomatischen Konzepte ermöglicht
uns ein tieferes Verständnis der Wirkmechanismen schamanischer
Heilrituale.
Der tiefe Eindruck, den schamanische Heilrituale beim Teilnehmer
hinterlassen, beruht auf ihrer Unmittelbarkeit und Ganzheitlichkeit,
die alle Ebenen des Menschen ergreift, sowie ihren kosmischen
Bezug. Damit sind die Schamanen Nepals für mich die Bewahrer
einer echten Heilkunde, wie sie in der westlichen Medizin unter
dem Zeit- und Kostendruck einer Apparatemedizin immer weniger
möglich ist. Dr. Christine Binder-Fritz, Österreich
Medizinanthropologin, Forschungsassistentin an der Abteilung Ethnomedizin,
Institut der Geschichte der Medizin, Universität Wien. Seit
1989 Forschungsaufenthalte in Aoteaora/ Neuseeland. Sie lebte
bei Angehörigen des Tuhoe und Te Arawa Stammes und ist mit
der Maori-Kultur bestens vertraut. Forschungsschwerpunkt: Integration
von Heil-Ritualen und Pflanzenheilkunde der Maori-Medizin in die
öffentlichen Gesundheitsdienste Neuseelands.
Elkshoulder,
Medizinmann der Cheyenne
Von Dr. Wolf Dieter Storl
NAME: Georg Elkshoulder
GEBURTSORT UND DATUM: Montana, um ca. 1915
STAMM: Cheyenne (Tsistsistas)
Georg Elkshoulder -
zu deutsch Hirschschulter - ist ein, weit über
das Reservat hinaus bekannter Medizinmann der Cheyenne - oder
Tsistsistas, wie sie sich selber bezeichnen. Elkshoulder, den
sein Volk respektvoll als den alten Mann bezeichnet,
kennt die überlieferten Stammeszeremonien wie kein anderer,
zudem ist er als einer der machtvollsten Heiler bekannt. Es kommen
sogar die Absarokee, die Krähen Indianer, zu ihm, wenn ihnen
die eigenen Medizinleute nicht weiter helfen können.
(...)
Als Stammesältester ist Elkshoulder für die Zeremonien
verantwortlich, die durchgeführt werden müssen, damit
das Weltall weiter bestehen kann. Um Visionen zu erlangen, fastet
er in der Wildnis, bis ihm die Tierlehrer erscheinen; als er jung
war opferte er sich, indem er beim Sonnentanz am Sonnenpfahl,
mit Haken befestigt, tagelang tanzte bis seine Seele abhob und
Maheo und die anderen Geistwesen ihm Visionen bescherten. Als
Traditionalist hält er nicht viel von alkoholischen Delirien
order auch dem viel sanfteren Peyote-Kult, der in den zwanziger
Jahren vom Süden her kam. Diese Visionen gehen mit
Sinnesverwirrung einher. Der Jäger und Krieger braucht scharfe
Sinne.
(...)
Als Professor des Sheridan College in Wyoming unterrichtete ich
damals einen Kurs in Medical Anthropology, wobei ich mich vor
allem auf die verschiedenen Heilkräutertraditionen konzentrierte.
Da eine der Studentinnen eine adoptierte Cheyenne war, erfuhr
der Ältestenrat von den Vorlesungen und schickte mir den
Außenminister des Stammes, den alten Medizinmann
Bill Tallbull. Unter anderem wollten sie genauer wissen, wie die
von den weißen Siedlern eingeschleppten Kräuter, die
nun an den Straßenrändern, in den Gärten und in
den bewässerten Feldern wuchsen, in der europäischen
Volksheilkunde verwendet werden. Maria Treben sei dank, konnte
ich ihm auch seine Fragen beantworten. Wir wurden gute Freunde
und, wenn Wetter und Zeit erlaubten, zogen wir mit den Hunden
los in die Wälder der Big Horn Mountains, in die baumlose
Steppe oder an das Ufer des heiligen Sees, Lake de Smet.
(...)
Einmal brachte er Georg Elkshoulder mit, ein Indianer, wie man
ihn sich einst in der romantischen Literatur vorgestellt hatte:
Groß, kräftig, eine auffallend aufrechte Haltung, ein
klarer Blick in den Augen. Der Alte war gar nicht
viel älter als Tallbull. Zuerst setzten wir uns hin zu einer
gemeinsamen Mahlzeit: Elch-Steak aus der Gefriertruhe, und zwar
großzügige Portionen, denn die Indianer als Erben paleolithischer
Großwildjäger sehen einen saftigen Braten als Freundschaftsgeste
an. Dazu gab es Salat aus meinem Biogarten. Elkshoulder sagte
den ganzen Tag außer einem Hallo nichts; Es
war Tallbulls Aufgabe zu sprechen.
(...)
Am Abend sprach er mit deutlichen, ruhigen Worten: Die kleinen
Leute, mit ihren Ponnies und Hunden, mit Sack und Pack, sind in
den See gezogen!
Ich starrte ihn an. Was wollte er da sagen?
Ähm ...entschuldige, ich verstehe nicht, könntest
Du das erklären? fragte ich vorsichtig. Er richtete
sich noch gerader auf, und aus seiner Stimme klang die ganze Würde
eines Stammesältesten und Medizinmanns:
Es wurde gesehen! sagte er, ehe er sich abwandte und
in den Wagen stieg. Und dann verstand ich. Es war sein Dank an
mich. Es war ein wunderbares Geschenk, welches seither einen nicht
wegzudenkenden Einfluss in meinem Leben ausübte und meine
Arbeit mitprägt. Nicht eine Decke oder eine mit gefärbten
Stachelschweinquillen verzierte Gürtelschnalle hatte er mir
geschenkt, sondern eine Vision. Er hatte sie hingezaubert, etwa
so, wie der indische Guru seinem Schüler ein Darshana vermittelt,
oder der japanische No-Meister mit einer einzigen Handbewegung
ganze Landschaften vor das innere Auge zaubert. Plötzlich
gewahrte ich, wie indianische Gnomen und Elfen - oder wie immer
man sie nennen will - mit winzigen Pferdchen, die auf Tragstangen
(Travois) geschnürte Bündel zogen, unter den Wasserspiegel
verschwanden.
Visionen sind für die Indianer das heiligste aller Güter.
Ohne Visionen kann kein Mensch, kein Volk leben. Visionen öffnen
die Sichtweise zu den geistigen Konturen des Universums, zu den
Kräften und Wesenheiten, welche die sichtbare, alltägliche
Welt durchdringen und tragen. Visionen gehören allein demjenigen,
dem sie offenbart wurden. Er kann sie zwar erzählen, aber
niemand kann sie sich aneigenen. Den Chevrolet des Indianers darf
ich einfach ohne zu fragen wegfahren, wenn ich ihn benötige;
sein Gewehr darf ich von der Wand nehmen, wenn ich es unbedingt
brauche. Aber seine Vision darf ich mir nicht aneignen, das wäre
verwerflicher als Diebstahl. Eine Vision kann aber geschenkt werden,
an einen Freund oder vor allem an einen Neffen, einem Sohn der
Schwester. Eine Vision kann auch dem Eigner abgekauft werden,
aber das ist teuer, das kostet schon einen Stapel Decken und mehrere
Pferde.
(...)
Wir hielten an dem abgelegenen kleinen gelben Häuschen. Elkshoulders
Frau lud uns in die saubere Stube. An der Wand hing ein Bild von
einem Hirsch und ein großer Poster, auf dem der große
Medizinmann Jesus zu sehen war. Ja, beteuerte sie, der alte Mann
wollte mich unbedingt sehen. Nun aber mußte er dringend
zu einer Zeremonie auf den Heiligen Bärenberg Nowahwus,
in den Black Hills, gehen und käme erst in einer Woche wieder
zurück. Sie erzählte, wie er die Woche zuvor eine Krähenindianerin,
durch das Auflegen eines erhitzten Steines, von den Folgen eines
Schlaganfalls geheilt hatte, Ihr Gesicht war schrecklich
verzerrt gewesen. Die weißen Ärzte nennen das einen
Schlaganfall, es war aber ein böser Geist der in sie hineingeschlüpft
war.
Ich nahm Platz und merkte, daß sich die Atmosphäre
in der Stube verändert hatte. Elkshoulders großer Sessel,
in dem er immer saß, wenn er zuhause war, rückte in
den Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit. Die Frau erzählte
weiter. Sie erzählte von diesem und jenem, dabei deutete
sie ab und zu auf den Sessel, und sagte, Ja, und wie der
alte Mann, sagt ... oder Der alte Mann hier macht
es so und so!
Ich spürte seine Gegenwart. Ich wußte, wenn er auf
dem heiligen Berg war, und mit den anderen indianischen Zauberern
die alten Rituale dort zelebrierte, dann konnte er fliegen, wohin
er wollte. Das erste Mal, daß ich mir gewahr wurde, daß
diese Indianer archaische schamanische Techniken beherrschen,
die ihre Seele reisen lassen, war anläßlich eines Hundemords.
In der kleinen Ortschaft am Rande der Bighorns, wo wir wohnten,
konnten die Hunde noch frei herumlaufen. Einige alte Frauen fürchteten
sich jedoch vor den Hunden und stifteten einen Säufer an,
die Tiere heimlich mit vergifteten Hackfleisch umzubringen. Fast
alle Hunde starben. An diesem Zeitpunkt weilten Elkshoulder und
Tallbull auf dem heiligen Berg, Nowahwus. In der folgenden
Woche traf ich Tallbull, der seit der Rückkehr vom Berg noch
nicht in der Ortschaft gewesen war. Als erstes stellte er mir
die Frage: Wo sind Eure Hunde? Wir sind über euer Dorf
geflogen, da waren keine Beller da! (Hunde sind den Cheyenne
übrigens heilige Tiere - auch wenn gelegentlich ein noch
milchsäugender Welpe mit in die Suppe kommt. Jeder Cheyenne
hat fünf bis sieben Hunde, und Welpen werden gerne verschenkt.
Die Hunde sind nicht nur als Wächter und Jagdgefährten
wertvoll, sondern ihre Träume bringen den Menschen Segen
- sagen die Indianer.)
Also konnte ich, auch wenn er nicht körperlich anwesend war,
dennoch mit den großen Medizinmann kommunizieren und Interessantes
lernen. Im Rahmen der herkömmlichen Wissenschaftsmethode
ist das natürlich nicht nachvollziehbar, ist reiner Humbug.
Aber dann, als Völkerkundler stößt man immer wieder
auf Dinge, für die unser kulturgebundenes (culture bound)
und letztlich ethnozentrisch konstruiertes Paradigma keinen Platz
findet. Ja, lieber Horatio, es gibt mehr Dinge im Himmel und auf
Erden, als eure Schulweisheit sich träumt! (Shakespeare,
Hamlet, I,5) Und dann, so wird gemunkelt, soll es auch hier schon
wieder Hexen geben, die bei Vollmond ihren Astralleib
durch den Äther schwirren lassen.
William
Torres:
Wege
der Einweihung
Kolumbianischer Schamane
Von Dr. Fabio Ramirez
Ich sah, dass zwei
Greise vor einem Lagerfeuer saßen und ihr Verhalten ließ
auf eine Ritual schließen. Sie kauten Koka (Erythroxilon
coca) und unterhielten sich in ihrer Sprache. Zwei oder drei junge
Indianer setzten sich in ihrer Nähe und die alten Männer
reichten ihnen Ambil (Tabakhonig, Nicotina Tabacum) und Kokamambe.
Irgendwas sagte mir, dass ich mich diesem heiligem Platz nähern
sollte. Ich fragte einen Greisen ob ich mich hinsetzen könnte.
Sie besprachen es in ihrer Sprache und in spanisch luden sie mich
schließlich ein. Fröhlich setzte ich mich an den Platz,
den sie mir zeigten, und sie reichten mir Ambil und Koka. Erneut
unterhielten sich die Männer über mich, in ihrer Sprache,
was ich den Gesten und Verhalten entnahm. Dann fuhren sie ihre
Gespräche fort, die eher einem rituellem Gemurmel ähnelten.
Während einer der Greise ein langes Monolog hielt, war sein
Mund mit dieser Art grünem Pulver gefüllt, das der Mambe
ist, und der andere Greis begleitete die Rede mit regelmäßigem
jm, jm, jm. Wir anderen hörten still zu. Ich
war betäubt vor diesen Worten des Alten in einer mir unverständlichen
Sprache. Um Mitternacht gingen die jungen Indianer schlafen. Die
Alten blieben und fragten mich ob ich müde sei. Ich war nicht
müde! Ich war fasziniert von den Worten, die in meinen Körper
eindrangen. Die Nacht war sehr kalt. Das Lagerfeuer neben den
Greisen gab uns Wärme. Einer von ihnen brachte Körner
der Frucht Umari (Poraquetba serioea) an das Feuer. Die Körner
überfüllten den ganzen Raum mit Feuer und das Feuer
überfüllte meinen Körper als ich die feuchte Luft
einatmete. Plötzlich kam ich dazu, die Sprache der alten
Männer zu verstehen und gleichzeitig sah ich den Arm eines
von ihnen als den Ast eines Busches, sich nach seinen Worten nachdrücklich
bewegend. Der Ast, der Arm, die Hand, alle sich nach dem Worte
hin- und her bewegend. Der Großvater sagte in seiner Sprache,
dass ich jetzt sein Wort verstehen konnte, dass das Wort der Koka
ist, dass das Wort Wissen ist. Sie sprachen nicht irgend etwas,
sondern das, was ihnen die Ältesten beibrachten und sie erlaubten
mir jetzt dieses Erlebnis, da sie meine großen Interesse
sahen. Es wurde mir schwindelig vom Worte, vom Ambil, von der
Koka und dem Rauch des Kornes und ich fühlte mich zum Erlernen
berufen.
Zehn jahrelang besuchte ich ihn, um des Wissens Empfinden zu erlernen,
bis zu dem Tage als wir uns verabschiedeten und ich zur Begegnung
mit dem Yagé in den Valle de Sobundoy abreiste. Am selben
Tag führte mich der Großvater zu seiner Chagra
(dem Gemüsegarten), um mit dem Erlernen der Sammlung des
Kokablatts zu beginnen. Im Amazonasgebiet muss diese Arbeit, im
Gegensatzl zur Sierra Nevada, von Männern durchgeführt
werden, und am selben Tag begann mein Lernprozess der schamanistischen
Anwendung dieser heiligen Pflanze, neben dem Tabak.
Auf dem Markt von Valle de Sibundoy kaufte ich einmal eine Flasche,
um sie dem Großvater José García, meinem Meister
Muinane, zu schenken. Als ich bei ihm mit dem Geschenk ankam,
befragte mich der Alte: Was für ein Yagé ist
das? Mit welchem Gebet nimmt man ihn ein?. Da ich auf diese
genauen Fragen keine Antworten fand, wies mich Meister García
darauf hin, dass es unmöglich ist, Yagé zu trinken,
ohne zu wissen was für eines er ist und ohne zu wissen durch
welches Gebet, Beschwörung oder Gesang er angerufen werden
muss. Er bedankte sich bei mir und behielt das Geschenk, und sagte,
dass wir es leider nicht verwenden konnten, da wir die Angaben
darüber nicht besaßen. Ich bat ihn darum, dass er mich
im Umgang mit dem Yagé einführe, aber es war unmöglich,
so sagte er, weil er sich vorbereite, seinen Körper zu verlassen
und dies würde innerhalb der nächsten drei Monate geschehen.
Der
Klang des Herzens:
Zur
Person und Lehre des Sufimeisters Oruc Güvenc
Von Gerhard K. Tucek
Meine erste Begegnung
mit Oruc Güvenc kündigte sich vor nunmehr sechzehn Jahren
auf recht sonderbare Weise an. In einer Zeit großer innerer
Zweifel und äußerer Umbrüche hatte ich eines Nachts
einen für meinen weiteren Lebensweg entscheidenden Traum:
Ich wurde gemeinsam mit einer Gruppe von Menschen durch ein prunkvolles,
schloßartiges Gebäude geführt. Von dort aus geleitete
man uns in einen Park, in dem sich die Menschen allerlei Spielen
und Belustigungen hingaben. Dort vernahm ich eine Musik, die mich
gemahnte, meine Zeit nicht mit unnützem Spiel zu vergeuden.
Ich verließ die Gruppe und kehrte - dem Klang der Musik
folgend - alleine in das Gebäude zurück. Ich durchschritt
Zimmer für Zimmer, die Musik immer deutlicher vernehmend.
Eine Stimme geleitete mich und kündigte an, daß u.a.
diese Musik von großer Bedeutung in meinem Leben sein werde.
Von diesen Worten und den darauffolgenden Traumereignissen tief
bewegt, wachte ich auf. Selbst im Wachzustand war ich von dem
von dieser Musik ausgehenden extatischen Lebensgeschmack so sehr
erfüllt und belebt, als wäre jede einzelne meiner Zellen
selbst Musik. Damit einher ging eine mir zuvor unbekannte tiefe
Sehnsucht, welche sich jedoch weder an eine bestimmte Person noch
an eine bestimmte Situation oder Sache festmachen ließ.
Dieser seltsame, mit Worten nicht ausreichend beschreibbare Zustand
hielt über mehrere Tage hinweg an.
In diesen Tagen bat mich eine Freundin, einen mir noch unbekannten
türkischen Musiker vom Wiener Flughafen abzuholen und zum
Konzertsaal zu bringen
Es war wie ein deja vue Erlebnis. Oruc erschien mir nicht fremd,
als ich ihn erstmals sah. Die von Oruc gespielte Musik versetzte
mich wieder in jenen extatischen Zustand, den ich aus dem zuvor
geschilderten Traum kannte. Als ich Oruc nach dem Konzert davon
erzählte, lud er mich ein, mit ihm nach Istanbul zu kommen,
um dort einige Zeit in seinem Haus zu verbringen. All meine anerzogene
Vorsicht gegenüber Fremden über Bord werfend, willigte
ich ohne zu zögern ein. Oruc ließ sein Rückflugticket
verfallen, und wir vereinbarten statt dessen mit unserer gemeinsamen
Bekannten in meinem Wagen nach Istanbul zu fahren.
Als ich das Zimmer betrat in dem sich Oruc und andere Besucher
aufhielten, begab sich etwas, was ich im Verlauf der vielen gemeinsamen
Jahre als typisch für Orucs Leben und Handeln kennenlernte:
Unser Reiseziel hatte sich geändert.
Anstelle nach Istanbul zu fahren, brachen wir nach Budapest auf.
Wir erreichten die österreichisch- ungarische Grenze gegen
1 Uhr 30 morgens. Im Jahr 1984 war diese Grenze noch Teil des
eisernen Vorhangs. Man öffnete das Gepäcksabteil
unseres Wagens und begutachtete die seltsam anmutenden Musikinstrumente.
Wenige Minuten später fand ich mich in einer weiteren - für
Oruc typischen - Szene wieder: wir spielten und tanzten für
eine immer größer werdende Zahl bewaffneter Grenzpolizisten
vor dem geschlossenen Grenzbalken. Etwa zwanzig Minuten später
ließ man uns freundlich winkend und ohne weitere Kontrollen,
weiterfahren.
Wir blieben das gesamte Wochenende und am frühen Sonntagmorgen
führte uns Neslihan auf eine Anhöhe über der Stadt.
Dort liegt das Grab von Gül Baba - einem islamischen
Mystiker des 16. Jahrhunderts. Ihm schreibt die Legende zu, die
Rose nach Ungarn gebracht zu haben. Ich erinnere mich noch genau
an die Morgenstimmung am Mausoleum, welches von Rosensträuchern
umrankt war, die im Morgentau glitzerten. Als wir vor Gül
Babas Schrein standen, wandte sich Oruc zu mir und erzählte
folgende Geschichte: Einer meiner Freunde beobachtete eine
Nachtigall, die mit größter Anstrengung versuchte,
mit ihrem Schnabel an den Grund einer Rosenknospe zu gelangen.
Je intensiver sie dies versuchte, desto stärker verletzte
sie sich an den Dornen. Doch je stärker sie blutete, desto
bedingungsloser versuchte sie in das Innere der Knospe zu gelangen.
Von einem Moment auf den anderen schoß mir ein Tränenschwall
in die Augen und ich weinte stundenlang, ohne den Grund dafür
zu begreifen.
Alexandra
Konstantinovna Chirkova:
Grenzüberschreitende Heilerin und Chirurgin Russlands
Von
Marjorie Mandelstam Balzer
Als Kind war
ich oft krank, wurde sogar bewußtlos ins Krankenhaus eingeliefert.
Ich fiel einfach plötzlich um und konnte mich später
an nichts erinnern ... Ich war noch jung, als ich zum ersten Mal
die Kraft spürte. Ich hatte Visionen, Vorahnungen. Doch ich
war auch dickköpfig und emotional ... Vater versuchte, mir
klarzumachen, daß dies nicht richtig war. Ich hatte einen
Traum, in dem ich in eine Schlangengrube geworfen wurde. Ich hörte
eine Stimme, die sprach: Sie wird es begreifen. Sie wird
es schaffen. Viele Jahre später wurde Alexandra
ärztliche Direktorin ihres Distrikts (Abyi) und Leitende
Ärztin eines Krankenhauses in der Kreisstadt Belaia Gora.
Im weißen Kittel half sie in den 1970er und 80er Jahren
vielen Patienten, indem sie ihr medizinisches Wissen ebenso wie
ihre intuitiven Heilkräfte nutzte.
Alexandra erzählte mir die Geschichte eines Patienten, die
dieser später im Wesentlichen bestätigte: Nikolai
hatte Magenkrebs ... Ich hatte sehr große Bedenken, ihn
anzunehmen. Er war in Jakutsk operiert worden, und als er zu mir
kam, sah er aus, als würde er gleich sterben. Ich war entsetzt.
Und seine Frau war zu Besuch bei ihrer Familie, die weit weg lebte.
Ich erklärte ihm, wir müßten sie vielleicht telegraphisch
zurückrufen. Aber ich mußte auch ihn wegschicken, sagte,
er solle tags drauf wiederkommen, bis dahin würde ich mir
überlegen, wie ich ihm helfen könnte. Ich brauchte ein
Zeichen, daß ich ihm helfen sollte, daß ich ihm helfen
könnte. Gut, das Zeichen kam, so daß ich ihn, als er
mich am folgenden Tag aufsuchte, als Patienten annahm. Ich konnte
mit geschlossenen Augen in ihn hineinsehen, die Eingeweide und
ihren Inhalt, das Blut und den Krankheitsherd sehen. Ich erklärte
ihm, ich würde ihn wie in Jakutsk operieren, aber nach meiner
Methode. Er erbrach sich und entleerte Unmengen Blut und Verunreinigungen
aus Mund und Darm . Als er sich wieder beruhigt hatte, sagte er,
daß jemand hinter mir stünde. Als ich das hörte,
wußte ich, daß es mein Vater war und daß Nikolai
gesund würde. Ich sagte Nikolai, wenn er nach Hause käme,
dürfe er kleine Mengen der Speisen essen, auf die er Lust
habe.
Alexandra stellte auch die Verbindung her zur Bedeutung der Ökologie
für die Gesundheit der Gesellschaft: Wenn die Region durch
Bergbauprojekte geschädigt wird, ist das nicht nur unmittelbar
zerstörerisch, sondern es zerstört auch das empfindliche
Gleichgewicht mit der spirituellen Welt. Die Einstimmung auf die
Pracht der Berge ist viel mehr als ein ästhetisches Tonikum;
sie ist die Bestätigung einer eingeborenen Philosophie, die
den Menschen in ein größeres spirituelles System stellt
und nicht über dasselbe, wie es das Sowjetsystem so eindeutig
praktizierte.
1993 beschrieb Alexandra, wie ihre Therapiesitzungen ablaufen:
Wir entscheiden, in welcher Sprache wir mit den Teilnehmern
an einer Gruppe arbeiten wollen. Manchmal ist es Sacha, manchmal
Russisch. Ich singe ihnen Begriffe der Natur vor, Gebete, algys.
Ich liebe meine Patienten, meine Kranken. Beruhige dich, sage
ich. Jeder Einzelne ist Teil der Natur. Ich verwende Gesänge
der Vögel, beschreibe den Duft von Dingen mit Worten, lasse
sie die Sonne spüren. All dies hat eine Wirkung. Sie schließen
die Augen. Manche sehen eine grüne Kugel. Manche sagen Wir
haben dich verloren. Ich frage: Was seht ihr denn?
Wir spüren bloß die Wärme, die von dir ausstrahlt.
Wir sehen eine grüne Kugel. Als die Kranken das anfangs
erzählten, wunderte ich mich. Sie sehen auch verschiedene
Szenen aus ihrem Leben. Hilfsgeister schamanischer Heiler
zeigen sich in vielerlei Gestalt; und Konstantin und seine Tochter
führen die Tradition fort, sich mit tierischen Hilfsgeistern
in Verbindung zu setzen (in der Sacha-Sprache heißen die
wohlwollenden Geister Aiyy).
Hans
Kurmann:
Schamanistische Elemente in alpenländischen Jenseitsvorstellungen
Von
Kurt Lussi
Der 1923 geborene Hans
Kurmann aus Willisau war ein waschechter Luzerner Hinterländer.
Im alten Löwen in Hergiswil. Er setzte seinen Stumpen nur
ab, um einen Schluck Kaffee, Schnaps oder eine ordentliche Prise
Schnupftabak zu nehmen. Kurmann, von Beruf Feldmauser und landwirtschaftlicher
Angestellter, verdanke ich wertvolle Hinweise zum System der Zwölften.
Unter dieser Bezeichnung versteht man die zwölf Tage zwischen
Weihnacht und Dreikönige. In dieser Zeit sind die Wesen aus
dem Reich der Geister besonders unberechenbar. Sie treten als
heftige Winde oder geisterhafte Kobolde auf und verursachen Krankheiten,
die oft den Tod zur Folge haben. Der Mensch tut deshalb gut daran,
ihnen vor allem in der Nacht aus dem Weg zu gehen.
Die Beobachtungen des Hans Kurmann hängen mit dem Glauben
zusammen, wonach Unwetter, besonders aber heftige Westwinde, Hagel
und Gewitter, von den Wesen des Jenseits gemacht würden.
Dementsprechend ist in vielen Erzählungen vom Türst
die Rede, der im tosenden Sturmwind mitreitet und das Heer der
namenlosen Toten anführt. Der wilde Zug, heißt es,
zerschmettere alles, was sich ihm in den Weg stelle. Nur durch
das Aufstellen von Kreuzen und gegen den Sturmwind gespritztes
Weihwasser könne die zerstörerische Kraft des Totenheeres
gemildert oder von Haus und Hof abgewehrt werden.
Bis in die Gegenwart haben sich im Alpenraum Gebräuche und
Glaubensvorstellungen erhalten, die ihre Wurzeln in der vorchristlichen
Zeit haben. Es gibt eine ausgeprägte schamanistische Landschaft,
in der Kapellen, Bäume, Haine und Hecken ihre besondere Bedeutung
haben. Und es gibt vor allem ein schamanistisches Bewusstsein,
das im Glauben an eine von Geistern und unruhigen Seelen bewohnten
Natur zum Ausdruck kommt. Dieser Glaube wird mündlich weitergegeben.
Er umfasst alle im Laufe der Zeit gemachten religiösen Erfahrung
der Menschen, weshalb er auch christliche Elemente enthält.
Die Sträggele, die Schamanin der Geisterwelt
In der Nacht schweifen die Seelen unruhig Verstorbener umher.
Sie folgen unsichtbaren Wegen, die seit Menschengedenken einen
bestimmten Verlauf nehmen. Mit Rauschen, Tosen und einem Geheul,
das demjenigen jagender Hunde ähnlich ist, kündet sich
der geisterhafte Zug an. Die Wilde Jagd, die man an
anderen Orten Wuotisheer, Muotiseel oder Türstjagd nennt,
zerschmettert unbarmherzig alles, was im Wege steht. Grausam ist
das Schicksal der Unvorsichtigen und Spötter. Sie werden
zerfetzt und müssen sich dem Gefolge anschließen. In
einer Sage aus Fischbach, Kanton Luzern streckt eine Mutter ihr
unfolgsames Kind nachts aus dem Fenster. Doch der Knecht, der
sich als Hexe hätte ausgeben und das Kind erschrecken sollen,
kommt zu spät. An seiner Stelle erscheint die im wilden Heer
mitreitende Nachthexe, die Sträggele, die der Mutter das
schreiende Kinde entreißt. Am nächsten Morgen fanden
die Leute bei der Kreuztanne, die früher in der Nähe
der Liegenschaft Ober-Gretti stand, Beinchen und Haare des Kindes
sowie einige Fetzen von seinen Kleidern. Als die Kreuztanne später
gefällt wurde, floss Blut aus dem Holz. Als Zeichen der Versöhnung
mit den hier wirkenden Mächten errichtete man ein steinernes
Kreuz, an dem jenes Eisenkreuz angebracht wurde, das früher
an der Tanne hing. Dieses Kreuz steht noch heute; das in der Nähe
stehende Wäldchen gilt immer noch als Aufenthaltsort unruhiger
Seelen.
In ihrer ursprünglichen Bedeutung ist die Sträggele
ein zwischen dem Diesseits und dem Jenseits stehendes Wesen, das
die Seelen der Verstorbenen abholt und auf ihrem gefährlichen
Weg ins Reich der Toten begleitet. In gewissem Sinne ist sie die
Schamanin der Geisterwelt. Sie nimmt die Seelen der Verstorbenen
in Empfang und gliedert sie ein in das von Wodan angeführte
Heer der Toten. Erst durch die Christianisierung hat sie eine
negative Umdeutung erfahren.
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